Freitag, 12. Mai 2017

Schmähkritik des Tages (7)


Heute: SZ-Redakteur Max Scharnigg über seine Heimatstadt München

"München ist eine Theaterkulisse auf den Schultern von sechs DAX-Konzernen. Die Schleuser hierher nennen sich Headhunter. Sie haben eine Karriere- und Schlafstadt geschaffen, in die unentwegt Menschen kommen, um Geld zu verdienen und am Wochenende wandern zu gehen. Mit dem Geld kaufen sie sich erst eine Portion Stadtstolz, dann eine bayerische Tracht, dann eines der Autos von hier und dann eine Wohnung und daneben ist eigentlich keine Zeit für irgendwas anders, höchstens mit dem Hund in den Park, weil was anderes kannst du in den Münchner Parks auch nicht machen. […]

Schon klar, dass Städte wie Menschen unterschiedliche Talente haben. Aber München ist mittlerweile wie die sentimentale Idee von einer Stadt, die alle irgendwie haben und wegen der nicht zuletzt auch nonstop diese Magazine und Lebenswert-Sonderhefte entstehen. Wenn du genau hinschaust, dann ist da aber eigentlich gar nicht mehr viel. Du darfst nix. […] In München kannst du nicht einfach essen gehen, die zwei Dutzend guten Restaurants sind alle immer reserviert, du musst Tage vorher anrufen. Und wenn du aus dem Kino oder Theater kommst, gibt's nichts mehr, weil die Köche hier um 22 Uhr flächendeckend das Kochen einstellen. In der Bierstadt München kannst du nix trinken, einfach mal schnell ein Bier, für so was musst du hier richtig eine Idee, einen Plan haben. Wenn nicht, endest du nach viel Gerenne in einer der Folklore-Schänken oder in der letzten Spelunke, wo noch ein Platz frei ist. […]

Du bist hier dankbar für jeden schäbigen Getränkemarkt, der noch nicht Kinderpsychologe ist. Dankbar für irgendein altes Firmenschild, das dich daran glauben lässt, dass es hier früher auch Menschen gab. Die zehneinhalb offen kreativ Lebenden stehen genau so unter Denkmalschutz wie die vier Verrückten und die drei Traditionsgeschäfte, die es hier noch gibt. Lies mal die täglichen Münchner Polizeimeldungen, die eine Hälfte sind Senioren, die an falsche Handwerker und Polizisten versehentlich zehntausende Euro weiterreichen und die andere sind Unfälle, in denen die gleichen Senioren mit ihrem Range Rover in einen Mini krachen. […]

Echt, zum Verklären besteht kein Anlass." (scharnigg.de, auch: Süddeutsche Zeitung, 5.5.2017)


Bamm.


Eigentlich sollte, nein müsste dieser schöne Artikel für sich stehen. Dennoch kann ich nicht umhin, mir ein paar Anmerkungen zu erlauben. Wer dies unangemessen findet, so als ob der peinliche Onkel sich aufs Foto drängelt, möge ab hier gütigst nicht weiter lesen.

"Kommt eine vierköpfige Familie nach München und fragt nach einer bezahlbaren Wohnung in Stadtnähe..." -- in München war das schon ein echter Brüller, lange bevor in Berlin und anderen Städten die große Gentrifizierung ausbrach. Schon Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger kursierte das Gerücht, in München würden Kassiererinnen, Krankenschwestern, Busfahrer, Müllmänner, Hilfsarbeiter etc. von potenziellen Arbeitgebern mit Mietzuschüssen geködert, da wegen der astronomischen Mieten sich kaum noch Bewerber für solche nicht üppig bezahlten Berufe finden ließen. Ich war nur ein paar Mal in München, das längste Mal vor inzwischen einem Vierteljahrhundert. Ich besuchte meinen alten Schulfreund G., der dort ein Freisemester lang studierte, und verbrachte ein paar Tage in der Stadt.

Klar, ich kann nicht wirklich behaupten, mich auszukennen, doch deckten sich einige meiner Eindrücke damals durchaus mit dem, was Scharnigg schreibt. An einem Abend wollten wir in die Staatsoper. Mit Studentenausweis ließ sich an sehr günstige Karten kommen, für die man sich an einem Seiteneingang an der Maximilianstraße ein paar Stunden anstellen musste. Wir lösten uns jede Dreiviertelstunde ab und ich nutzte die Gelegenheit, mich ein wenig in der nahegelegenen Altstadt umzuschauen. Mich dürstete nach einem Kaffee, für den ich in kein Edelcafé musste, doch gelang es mir nicht, binnen einer halben Stunde irgendwo einen auf die Hand zu bekommen. Das dürfte sich angesichts der seit Jahren grassierenden 'To Go'-Seuche und der Starbuckisierung der Welt inzwischen geändert haben. Irritierend für mich, nicht wie im heimischen Ruhrpott an jeder Straßenecke ein Büdchen vorzufinden, an dem sich für ne Mark schnell ein Kalt- oder Heißgetränk zur damals noch schachtelweise konsumierten Zichte nehmen ließ.

Als wir abends nach zehn hungrig aus der Oper kamen, wollten wir irgendwo noch einen günstigen Happen nehmen. Abgesehen von teuren Restaurants war nix zu machen und zu McDonald's wollten wir nicht. Letztlich landeten wir in einer ranzigen Gaststätte, deren Küche auch schon geschlossen war, in der aber immerhin Körbe mit furztrockenen Brezn auf jedem Tisch standen, aus denen man sich gegen einen Wucherpreis bedienen konnte. Am Ende waren die zwei Halben und die zwei Brezn pro Nase teurer als die Opernkarten. Vielleicht wäre McDonald's doch die bessere Wahl gewesen, dachten wir hinterher. Weil G. noch nicht lang in München weilte, kannte er sich noch kaum aus. Ein Ansässiger oder Eingeborener hätte uns sicher an zig Orte führen können, an denen was los gewesen wäre um die Zeit, in eine Boazn oder einen Studentenladen, in dem man für kleines Geld ordentlich hätte essen können, aber darum geht es nicht. In einem Provinznest, da rechnest du mit nichts anderem, als dass spätestens um zehn die Bürgersteige hochgeklappt werden. Aber mitten in einer Millionenstadt, die sich selbst 'Weltstadt' nennt?

"München ist angeblich reich. Find ich gut. Aber wie äußert sich der Reichtum eigentlich? Die schönen alten Schulen sind alle baufällig, für Fachärzte brauchst du zwei Monate Wartezeit, die Bürgerbüros sind so abgerockt, eng und beamten-analog, das willst du keinem Dänen zeigen. Gibt’s irgendwas Neues, außer zweier bildschöner Tunnels? Gibt’s einen Fortschritt, eine Großzügigkeit, ein Experiment, gibt‘s irgendwas aus dem digitalen Zeitalter? Bist du auf irgendwas stolz, das die Stadt in den letzten zehn Jahren aus sich heraus geschaffen hat? Was zeigst du einem Gast, der in München zu Recht den Wohlstandsmotor Europas vermutet? Du zeigst ihm den SUV-Stau und die Burnout-Visagen." (Scharnigg, a.a.O.)

München bekomme ich seither nur mit, wenn ich per Auto meine bayerische Verwandtschaft besuche und auf die A 8 muss. Ist man nur ein wenig zu spät dran, steht man auf der A 99 gewaltig im Stau. Es ist ja gewiss nicht so, dass die Bayernmetropole trotz allem nicht auch ihre schönen Seiten hätte. Die charakteristische Skyline mit den Doppelzwiebeltürmen der Frauenkirche vor der Alpenkulisse ist eines jener ikonischen Stadtpanoramen, die auf der ganzen Welt bekannt sind. An vielen Stellen erfreut die Architektur das Herz eines jeden Besuchers, der daheim mit gruseligödem 08/15-Nachkriegsgeklotze und anderen Bausünden groß werden musste und inmitten davon leben muss. Es gibt herrliche Biergärten, bayerische Küche, exzellente Museen und ein grauer, feuchtkalter Februar wie damals ist sicher nicht die beste Zeit im Jahr für pulsierendes urbanes Streetlife. Obwohl, als G. und ich Jahre später Münchner Erinnerungen tauschten, meinte er, im westfälischen Münster, seinem eigentlichen Studienort, sei definitiv mehr los gewesen. Wer Münster kennt, weiß, das heißt was.

(via neuperlach.org)
Natürlich sind auch öde, einförmige Mittelschichts-Vorstadtschlafghettos und Burnoutfressen im SUV-Stau keine exklusive Münchner Spezialität. Nur könnte es sein, dass man sich darüber, was Kapitalismus aus Städten machen kann, anderswo ein wenig bewusster ist als an der Isar und sich womöglich auch weniger Illusionen darüber macht. Das höchste Lob, das man Einwohnern von Städten wie Bochum, Essen, Delmenhorst oder Jackerath über ihre jeweilige Stadt normalerweise entlocken kann, lautet in etwa: "Na ja, gibt auch schöne Ecken hier. Muss man halt kennen."

München scheint mir neben Köln diejenige größere Stadt Deutschlands zu sein, die am besoffensten ist von sich selbst und um die nach dem hauptberuflich zerbombten Dresden das sentimentalste Bohei gemacht wird. Stolz trägt man das über 100 Jahre alte Mannsche Diktum von der leuchtenden Kunstmetropole München sowie den Stadtmarketingslogan von der 'Weltstadt mit Herz' vor sich her. So siehst du aus!

"Eine Weltstadt erkennt man daran, dass ihre Bewohner und Politiker nicht ständig darauf hinweisen müssen, Weltstadt zu sein. Weil es ja alle wissen. Und weil man sich einen Dreck darum schert, was andere denken" (Leo Gutsch). Und massig Investorengeld und ein Oktoberfest allein machen eine Stadt eben nicht automatisch interessant, aufregend, reizvoll oder gar lebenswert. Umso wichtiger, dass endlich wieder jemand die schöne Tradition der gepflegt polemischen, bewusst unfairen Hasstirade auf die überbewertete Heimatstadt aufgreift, die seit Thomas Bernhard und dem Kiezneurotiker ein wenig eingeschlafen ist.





4 Kommentare :

  1. Hier ist noch was schönes zu Köln, meine Lieblings-Hass-Stadt ;-):

    https://www.youtube.com/watch?v=HHVyEvRgn2s



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  2. War mal in M., gingen in ein Lokal. Ätzend, aber nette Bedienung, also fragten wir sie nach einer Lokalität, die nicht so schicke sei, worauf sie uns in eine, Zitat, "versiffte Jazzpinte" lotste.
    Die "versiffte Jazzpinte" entpuppte sich als Restaurant(!) mit Kellnern(!!), die Tücher über den Armen trugen(!!!). Das einzige "versiffte" waren die Wände, die nicht in neon gestaltet waren, sondern eher rustikal aussahen.

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  3. Schicke Postkarte, übrigens. Um es mit Chlodwig Poth zu sagen: „Diese Tiefe! Diese Weite! Das macht Gott keiner nach!“

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